Food ist my religion?

food-is-my-religion-gedanken

(Nicht) Gut Kirschen essen?

Während die größten Religionen bislang Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus hießen, könnte man meinen, sie werden langsam überholt vom Mischköstlertum, Vegetarismus und Veganismus. Treffen sich die drei an einem Tisch, ist nicht gut Kirschen essen – Obwohl, die vielleicht gerade noch. Aber nur in Bioqualität, nein besser aus dem eigenen Garten. Ach was, Bio ist doch auch nur Marketing und man kann es auch übertreiben. Ja, genau so fängt es an. Immer und immer wieder. Diskussionen über Ernährung, Essen und alles was dazu gehört. Würde jeder, der diese Zeilen hier liest und selbst einmal Beobachter oder Teil einer solchen Diskussion war, heute Nacht das Licht anschalten – es wäre plötzlich sehr hell in Deutschland.

Ich bin kein Theologe, kein Religionskritiker, bin nicht getauft, glaube nicht an einen Gott, aber doch an „irgendwas“. Meine Kenntnisse über Religion begrenzen sich auf Gespräche mit Familie und Freunden; auf Informationen von hier und da, die jeder mal im Vorbeigehen aufschnappt und auf meinen glorreichen Ethik-Unterricht in der Schule. An dieser Stelle: Schöne Grüße an meinen Ethiklehrer, der mich prägte mit dem Satz: „Nun tragen wir einmal unsere Meinungen zusammen, damit wir in der Leistungskontrolle auch alle die richtige haben.“ Die „richtige“ Meinung haben. Und zwar die einzig richtige – das scheint heutzutage auch das Ziel zu sein, wenn es um Ernährung geht. Verfolgt man Diskussionen in den Medien, in sozialen Netzwerken oder die Restaurant-Gespräche am Nachbartisch könnte man meinen es sei ein Krieg ausgebrochen. Ein Krieg unter Fleischessern, Vegetariern, Veganern und all ihren Subpopulationen – wie LowCarblern, Rohköstlern, Paleoten, Weight Watchern, Pescetariern hinzu denen, die sich HCLF oder IIFYM auf die Fahne geschrieben haben. Sie alle (Ja: Übertreibung, Übertreibung. Aber davon lebt doch die Welt.) scheinen die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben – (Memo an mich selbst: Herausfinden wie die Kalorien- und Nähstoffverteilung von Weisheit ist.)

Missionieren im 21. Jahrhundert | Oder: Was darf’s heute sein? 

Die Situationen sind vielfältig: Wenn Oma Erna sich beim Familiengrillen Sorgen macht, weil Enkel Ole plötzlich kein Fleisch mehr ist. (Aus dem Jungen soll doch mal was werden!) Wenn Eddi mit hochgezogenen Augenbrauen beäugt wird, weil er herzhaft in eine Bratwurst beißt. (Hallo? Nie von Lebensmittelskandalen gehört?) Wenn Susi eine Cola statt Wasser bestellt. (Du weißt aber schon, dass… Ihr kennt die Leier.) Ob man etwas isst oder nicht isst, trinkt oder nicht trinkt – nahezu alles kann im wahrsten Sinne zum gefundenen Fressen werden. Ich habe das Gefühl, es geht schon längst nicht mehr um Interesse, Austausch oder gut gemeinte Ratschläge. Nein: Unverständnis, Rechtfertigung, Endlosdiskussionen und Missionieren stehen auf der Tagesordnung. Jeder kocht sein eigenes Süppchen und findet trotzdem im Topf der anderen ein Haar.

Unser täglich Brot gib uns heute. Aber nicht nach 16 Uhr. | Oder: Woran glaubst du? 

Kein Brot nach 16 Uhr, denn Kohlenhydrate machen dick. Milchprodukte sind schädlich, industrieller Zucker ist der Teufel. Nur rohe Kost ist verträglich. Am Ende kommt es auf die Kalorienbilanz an. Vegane Ernährung ist nicht für den Menschen gedacht. Drei Mahlzeiten müssen es sein. Nein Fünf. Vier Eier sind zu viel. Gluten muss man meiden. Fett macht fett. Alles egal: If it fit your macros. Bananen und Weintrauben haben zu viel Fruchtzucker. Unverträglichkeiten sind Einbildung. Cheatdays kurbeln den Stoffwechsel an. Salz ist ein Gift. 80/10/10 ist die geheime Formel.

Puh. Durchatmen.

Hilde hat mit Kalorienzählen satte acht Kilo abgenommen. Respekt und herzlichen Glückwunsch. Das freut mich sehr (wirklich!). Aber das heißt doch nicht, dass Mama, Papa, Tante und Schwippschwager ab heute auch Protokoll führen müssen. Oder doch? Und sollen sie auch sofort nur noch Lebensmittel mit weniger als drei Inhaltsstoffen essen? Immerhin wird man damit Hautunreinheiten und Verdauungsbeschwerden innerhalb von drei Wochen los – sagen zumindest Studien in einer Zeitschrift, die ich kürzlich im Wartezimmer gelesen habe.

Apropos Studien | Oder: Welche ist deine heilige Schrift

„Glaube ist Gewissheit ohne Beweis“, sagte einst der französisch-schweizerische Philosoph Henri Frédéric Amiel. Na halt! Dann hat Ernährung ja doch nichts mit Glaube zu tun, denn Beweise gibt es ja zu Hauf. Unzählbare Artikel, Studien, Fach- und Kochbücher, Zeitschriften, Ratgeber und persönliche Erfahrungsberichte. Sie alle haben ihre Anhängerschaft und dienen als Inspiration, manchmal fast als heilige Schrift. Einige von ihnen verbreiten Mythen und Gebote unter der Überschrift „Vergiss alles was du wusstest, wir haben die Antwort auf jede deiner Fragen.“ Wer hier den Braten nicht riecht, hat Tomaten auf den Augen. Äh, Ohren. Wenn ich eines während meines Studiums und den zahlreichen Statistik- und Methodenseminaren gelernt habe: Alles ist möglich, nichts ist sicher. Wer selbst einmal in der Forschung gearbeitet hat, weiß: Es ist ernüchternd, aber wahr, dass jedes Ergebnis, so gut die Studie auch angelegt wurde, mit großer Vorsicht zu betrachten ist. Liest man dann von vorsätzlich geschönten oder manipulierten Studien könnte man vor Wut kochen. Wem kann man da noch Glauben schenken?

Zum Glück gibt es ja Götter | Oder: Wer ist dein Gott? 

Der gemeine Bürger ist wahrscheinlich schon längst auf der Strecke geblieben, ausgestiegen bei all den Ernährungsregeln, Grundsätzen und Verboten. Glücklicherweise gibt es Abhilfe: Ernährungsgötter, die uns den Weg weisen können. Uns über Gut und Böse berichten. Ihr Wort ist Gesetz. Leider, so hat es den Anschein, wird jedoch nur der gehört, der am lautesten schreit – was im digitalen Zeitalter so viel heißt wie: Der, der das beste Marketing hat. Follower. Reichweite. Am besten noch zur Primetime.

Erbsen um halb neun | Oder: Nach welchem Kalender lebst du?

Ramadan, Mondkalender, Fastenzeit und auch die Ernährungsuhr ist in vieler Munde. Nein, hierbei handelt es sich natürlich nicht um ein schlechtes Synonym für die neue Apple Watch. Es geht um Timing. Frühstück eine Stunde nach dem Aufstehen, vorher schon eine heiße Zitrone. Drei Stunden Pause zwischen den Mahlzeiten oder sollen es fünf sein? Morgens wie ein König, abends wie ein Bettelmann oder direkt 24 Stunden fasten bis die nächste Mahlzeit ansteht. Erbsen um halb neun? Nein, das ist nicht drin. Außer es ist Vollmond, da gelten andere Regeln.

Morgens halb 10 in Deutschland – darüber war man sich mal einig. Heute ticken die Uhren anders. Da kann einem schon mal die Decke auf den Kopf fallen. Ich muss raus. Das trifft sich gut, der Kühlschrank ist fast leer. Aber wo soll ich hin?

Wir lieben Lebensmittel | Oder: Welches ist dein Gotteshaus?

Zieht es dich zu gut sortierten Regalen ins Reformhaus? Oder ist das Steak-Restaurant dein heiliger Tempel? Gourmet oder Gourmore? Findest du alles was du brauchst auf dem Wochenmarkt? Kaufst du deine Gaben im Sportnahrungsgeschäft oder singen deine Engel bei ausladenden Käse-Theken Halleluja? Wo auch immer du deine Groschen in die Kollekte wirfst, es ist okay. Denkste! Der neue Bioladen um die Ecke ist „maßlos überteuert“, der Supermarkt hat nur Chemie in den Regalen und wieder, und wieder, wieder geht’s von vorne los.

Die alte Leier auf neuen Wegen 

Nun stehen wir hier. Die Diskussionen drehen sich im Kreis und eine Antwort ist nicht in Sicht. Was ist Gut? Was ist Böse? Woran soll ich glauben? Welche Ernährung ist denn nun die gesündeste? Was ist denn das Beste, für Körper und Geist? Brauchen wir längere Gespräche? Größere Studien? Mehr Vergleiche?

„Ich würde sagen, es hat keinen Sinn, einzelne Religionen zu vergleichen. Es sind verschiedene Wege. – Gandhi“

Gandhi würde sich vermutlich im Grab umdrehen, wüsste er, wie ich seine weisen Worte für diese „First World Problems“ missbrauche. Aber ich möchte sagen: Es hat keinen Sinn, einzelne Ernährungsformen zu vergleichen. Es sind einfach verschiedene Wege. Der eine mag es gepflastert, der nächste spürt lieber Sand zwischen den Zehn. Ich gehe gern planlos und ein anderer nie ohne Plan los. Nicht jede Ernährung passt für jeden. Und jeder von uns wird seine Einstellung, Gewohnheiten und Vorlieben im Laufe seines Lebens sicher ein paar Mal ändern. Wir haben nicht alle die gleichen Ziele und lassen uns manchmal auch einfach nur treiben. Wegweiser können dabei niemals schaden, aber wir sollten andere nicht schreiend und mit erhobenem Zeigefinger in Richtungen schuppsen, die uns selbst am besten gefallen. Und auch wenn wir ein Teil der Wege gemeinsam gehen, heißt das nicht, dass wir die gleichen Ziele haben müssen.

Lasst uns auf die Reise gehen. Neue Wege erkunden und vielleicht auch wieder zu alten zurückkehren. Auf uns Acht geben, mal Trampelpfade nehmen, über Stock und Stein und uns verlaufen. Schritt für Schritt. Aber lasst uns keine Kriege führen, über Wahrheiten, die wir nicht kennen – weil es sie nicht gibt.

Amen.

P.S.: Ja, ich werde für jede Phrase in diesem Text einen Euro ins Sparschwein werfen. Gut, dass es schon Mitte des Monats ist.

 

Titelbild von @majapetric via unsplash

2 Kommentare

  1. 5. Juli 2016 / 21:48

    Wow! Ich muss ehrlich sagen, ich hab den Beitrag jetzt nicht komplett gelesen, sondern nur überflogen (ist mir einfach gerade zu spät für den langen Text), aber ich stelle auch hier fest, dass wir gleich zu denken scheinen. Es gibt so viele Vorurteile und verschiedene „Glaubens- bzw. Lebensrichtungen“ und ich finde es echt traurig und schade, dass es so viele Vorurteile und Meinungen gibt. Ich finde, jeder sollte einfach so leben, wie er mag und andere Leben lassen, wie sie mögen – fertig!

    Werde mir in den nächsten Tagen deinen Artikel mal komplett durchlesen und dann schauen, ob mein Kommentar überhaupt passt, haha!

    Liebe Grüße
    Anna

  2. 16. Juli 2016 / 9:35

    Der Text ist wunderbar geschrieben, wirklich! Ich musste an so vielen Stellen Grinsen. Vielen Dank für deine Mühe und die toll gefundenen Worte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

achtung, eine durchsage: lassen sie ihr leben nicht unbeaufsichtigt