Der Sammler

Der Sammler

Die Rollen des Einkaufwagens klapperten über die grauen Pflastersteine. Den Griff fest umklammert, schob Emil den Wagen über die Straße. Ein Kiesel musste sich in einer der Rollen eingeklemmt haben, es ging schwerer als sonst. Doch Emil ließ sich nicht abhalten. Heute, heute hatte er eine besondere Mission.

Seit zwei Jahren zog er nun schon durch die Stadt, sammelte Pfand. Alles für seinen großen Traum: Eines Tages mit einem eigenen Boot in die See stechen, den Alltag hinter sich lassen. Wann immer er strammen Schrittes durch die Stadt lief, fielen ihm mitleidige Blicke zu. Beim Anblick dieser Leute hatte er oft diesen einen Gedanken: Schade, dass ich für euch Flaschen kein Geld bekomme – ich wäre schon längst auf dem Ozean.
Doch an diesem besagten Tag flogen andere Worte in seinem Kopf herum: Das letzte Mal. Nie wieder. Nie mehr. Voll Euphorie setzte er einen Fuß vor den anderen. Er konnte die kühle Seeluft förmlich schon spüren, den salzigen Geruch in der Nase. Selten war sein Traum so nah. Die Rollen des Einkaufwagens zogen nasses Laub mit sich. Doch davon ließ Emil sich nicht abhalten. Er hatte eine besondere Mission.

Einen Tag zuvor war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Emil musste zugeben, im ersten Moment hatte es ihm einen Stich versetzt, dass er nicht schon früher darauf gekommen war.
In der Kassenschlange war der Groschen gefallen. Stolz hielt er seinen Pfandbon in der Hand: 14,75€ hatte er ergattert – zugegeben, runtergebrochen nicht der beste Stundenlohn. Doch: Kleinvieh machte auch Mist, so lautete seine Devise.
Wie Emil in der schier endlosen Schlange stand und seinen Blick über die übrigen Wartenden gleiten ließ, klingelte ein Telefon.  Der Anzugträger vor ihm stöhnte leise auf, zog sein Telefon aus der Tasche und ging ran. Erst das übliche Warteschlangen-Geplänkel – ein bisschen Witz, ein bisschen Wut. Und dann Worte, die Emil erstarren ließen: Verlorene Zeit. Verlorene Zeit. Verlorene Zeit.
Ein Zucken durchfuhr seinen Körper und in seinen Kopf schoss ein Gedanke: Warum sammelte er noch Pfandflaschen? Da draußen wartete etwas viel Wertvolleres auf ihn: Zeit.

Es war klar: Er musste Zeit sammeln. Wie viele Menschen erzählten, dass sie Zeit verloren, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Irgendwo musste sie sein. Und Emil, Emil würde sie finden. Er hatte Sportschuhe an und seinen Wagen mit Folie ausgelegt – Ob die Zeit nun rennen oder fließen würde, er wäre für alles bereit. Und 14,75€ wären schon bald Geschichte, das Meer sein neues Kapitel.

Die Rollen des Einkaufswagens klapperten über die grauen Pflastersteine. Den Griff fest umklammert, schob er den Wagen über die Straße. Ein Kiesel musste sich in einer der Rollen eingeklemmt haben, es ging schwerer als sonst. Doch Emil ließ sich davon nicht abhalten. Heute, heute hatte er eine besondere Mission.

 

1 Kommentar

  1. 3. Januar 2016 / 3:19

    „Ob die Zeit nun rennen oder fließen würde, er wäre für alles bereit.“

    Großartig Anna, eine schöne Kurzgeschichte. Vielleicht ja die deiner Bucketlist? 😉

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

achtung, eine durchsage: lassen sie ihr leben nicht unbeaufsichtigt